Die Stahlstiftung

Die Stahlstiftung

von Lydia Thanner und Andre Zogholy

Mitte der 1980er-Jahre löste das Zusammentreffen der weltweiten Stahlkrise und der Verstaatlichtenkrise in der österreichischen Stahlindustrie weitreichende Restrukturierungsmaßnahmen in der damaligen VÖEST-Alpine AG aus, die mit einer umfassenden Rationalisierung von Arbeitsplätzen bzw. Sozialabbau verbunden waren.

    Den geplanten Abbau von Arbeitsplätzen beschrieben die Oberösterreichischen Nachrichten am 31. Dezember 1986:

"Beschäftigt die Voest jetzt 31.082 Mitarbeiter, so sollen es Ende 1987 um 1600 weniger, nämlich rund 29.450 sein. Unternehmensleitung und Betriebsrat haben die Absicht, diesen Personalabbau ohne Kündigungen durchzuführen. [...]. Als Eigenleistung will die Voest freiwillige Sozialleistungen abbauen."
(Oberösterreichische Nachrichten vom 31. Dezember 1986, S. 12)

    Gesetzliche oder politische Lösungen waren nicht in Sicht oder zeigten sich als unzureichend.(vgl. Lechner/Philipp 2007, S. 11) Weitreichende Konsequenzen ergaben sich. Das Ausmaß spiegelte sich zwischen September und Dezember 1987 in den Schlagzeilen und den dazugehörigen Übertiteln der Neuen Kronen Zeitung wider:

"Alleinstehende Frau nach 17 Jahren aus VOEST entlassen - Sie lebt von 1437 Schilling. 6fache Mutter wegrationalisiert"
(Neue Kronen Zeitung vom 11. September 1987)
"So will man pro Jahr 730 Millionen S (Anm: Schilling) einsparen. VOEST: Jetzt wackeln alle Werkspensionen"
(Neue Kronen Zeitung vom 8. November 1987, S. 10)
"1987 endet mit 4,5 Milliarden Schilling Verlust. VOEST: Markt-Erholung weckt wieder Hoffnung"
(Neue Kronen Zeitung vom 26. November 1987, S. 10)
"Finale im Musterprozeß um Wiedereinstellung von Gekündigten. Zwölf VOEST-Angestellte kämpfen vor Gericht um ihre Arbeitsplätze"
(Neue Kronen Zeitung vom 3. Dezember 1987, S. 7)
"Demonstration gegen Sozialabbau konnte den Vorstand des Stahlkonzerns nicht umstimmen. 1500 Pensionisten stürmten VOEST!"
(Neue Kronen Zeitung vom 10. Dezember 1987, S. 13)
"Beim Linzer Stahlkonzern wird jetzt von beinahe zehntausend 'Freisetzungen' gesprochen. VOEST-Personalabbau 'explodiert'!"
(Neue Kronen Zeitung vom 29. Oktober 1987, o. S.)

    Um einen Weg aus der Krise zu finden, beschlossen der Vorstand und der Betriebsrat gemeinsam die Gründung der Stahlstiftung. Die Stahlstiftung ging im Herbst 1987 in Eisenerz, in Folge am Standort Linz in Betrieb.
Während der Stiftungsgründung prägte Erhard Koppler, der Obmann des Zentralbetriebsrats, das Synonym "VOEST-Auffanggesellschaft" (Oberösterreichische Rundschau vom 20. August 1987) und Herbert Lewinsky gab als Generaldirektor geplante Schritte bekannt. Die Neue Kronen Zeitung berichtete am 8. September 1987:

"Lewinsky will das von der Belegschaft verlangte 'Solidaritätsopfer' in die so genannte Stahlstiftung einfließen lassen, deren Aufgabe die Umschulung und Weitervermittlung der gekündigten VOESTler sein soll. Darüber hinaus plädierte Lewinsky gestern dafür, daß die gekündigten Mitarbeiter, solange sie die Dienste der Stahlstiftung in Anspruch nehmen, keine Abfertigung ausbezahlt erhalten. Lewinskys Sparkurs trifft in der VOEST jetzt erstmals auch den Dienstwagenbereich. In einem ersten Schritt sollen 14 Chauffeure abgebaut werden, wobei die bisher verwendeten Dienst-Mercedes gleichzeitig durch etwas billigere Leasingautos ersetzt werden sollen."
(Neue Kronen Zeitung vom 8. September 1987, S. 10)

    Die Finanzierung der Stahlstiftung erfolgt nach wie vor über ein mehrstufiges Modell. Die Konzernleitung richtete zur Gründung einen Fonds in der Höhe von 10 Millionen Schilling ein, die Mitgliedsunternehmen beteiligen sich ebenfalls am laufenden Betrieb und StiftungsteilnehmerInnen bringen Zinsen aus ihren Abfertigungen ein. Einen weiteren Eckpfeiler im Finanzierungsmodell stellen seit November 1989 die verpflichtenden Solidaritätsbeiträge der MitarbeiterInnen in Höhe von aktuell 0,25 Prozent der Bruttolöhne und -gehälter dar (bis 1989: 0,75 Prozent). (vgl. Lechner/Philipp 2007, S. 21)

    Seit der Inbetriebnahme ermöglicht die Stahlstiftung MitarbeiterInnen vor allem den Umstieg in einen neuen Beruf oder anderen Betrieb. Im Jahr 1988 erfolgte die Konstituierung des Bildungs- und Unterstützungsvereins der Stahlstiftung (vgl. Dolleschka et al. 1988, S. 129)1, und in der Stiftungserklärung wird der Zweck der Stiftung angegeben. Ziel ist es, ArbeitnehmerInnen,

"[…] die in einem Dienstverhältnis zu einem dem VOEST ALPINE Konzern zugehörigen Unternehmen stehen oder standen, im Bedarfsfall Hilfe bei einer etwa nötigen Ausbildung oder Fortbildung zu gewähren, um Schwierigkeiten zu überwinden, die sich im Falle einer beruflichen Neuorientierung oder einer Arbeitsplatzsuche ergeben."
(vgl. Dolleschka et al. 1988, S. 111 f.)

    Das primäre Ziel der Stahlstiftung besteht im reaktiven Outplacement. Dies bedeutet, dass TeilnehmerInnen aktiv dabei unterstützt werden, eine möglichst schnelle Reintegration in das Erwerbsleben zu erreichen. Nach Seiwert (1989) ist Outplacement ein Instrument für die Unterstützung und Beratung von gekündigten Personen in ihrem weiteren beruflichen Werdegang. (vgl. Seiwert 1989, S. 11) Zusätzlich wurden proaktive Maßnahmen, wie beispielsweise die Förderung innovativer Forschungsvorhaben in Zeiten von Wirtschaftswachstum bei Vollbeschäftigung, verankert.

    TeilnehmerInnen erhalten finanzielle und persönliche Unterstützung sowie gezielte Aus- und Weiterbildung, um wieder in den Arbeitsmarkt integriert zu werden. Die Grundlage bildet mit der Dauer von bis zu sechs Wochen das Berufsorientierungsseminar. Diese Zeit dient den TeilnehmerInnen zur Perspektivenentwicklung und persönlichen Standortbestimmung. Auch wird ein individueller Entwicklungsplan erstellt und Entscheidungsprozesse werden begleitet. Daraufhin kann mit der Jobsuche begonnen (bis zu 4 Monate), interne oder externe Bildungsmöglichkeiten genützt oder eine Ausbildung aufgenommen werden (bis zu 4 Jahre). Unterstützung wird auch bei Unternehmensgründungen geboten (bis zu 3 Jahre).

    Neue Maßnahmen wurden entwickelt. Seit dem Jahr 2000 unterstützt die voestalpine Implacementstiftung Unternehmen auf der Suche nach geeigneten Fachkräften und stellt bedarfsorientierte Qualifizierungsmaßnahmen für Arbeitssuchende bereit. Das Know-how, das Wissen und die Kompetenzen werden in Kooperation mit der voestalpine Personalberatung und -systeme GmbH seit 2005 unter dem Titel "Jobvision" externen Firmen angeboten (Berufsorientierung, Bildungsberatung, Bewerbungstrainings, …).(vgl. Stahlstiftung 2006)

    2007 feierte die Stahlstiftung ihr 20-jähriges Jubiläum, zehn Jahre zuvor erfolgte die Auszeichnung als Best-Practice-Modell durch die Europäische Kommission. (Europäische Kommission 1997, S. 23)Der Betreuungsstand sank und erreichte bis zum Jahr 2008 einen Stand von 159 TeilnehmerInnen, auch die Verweildauer reduzierte sich im Durchschnitt auf 17,1 Monate. (Stand: September 2008, vgl. Stahlstiftung 2008) Die Oberösterreichischen Nachrichten berichteten darüber am 1. Dezember 2007:

"Zuletzt gab es kaum Neueintritte in die Stiftung. Daher bietet die Stahlstiftung heute Leistungen an, die die Beschäftigungsfähigkeit der Mitarbeiter der Mitgliedsfirmen erhalten sollen. Das sind Bildungsberatungen, Kurse oder Coaching in schwierigen Situationen. [...] In den 90er-Jahren wurde dieses Modell zum Vorbild weiterer Unternehmens-, Regional-, Branchen- und Insolvenzstiftungen. 1997 wurde das Modell von der EU als Best-Practice-Beispiel ausgezeichnet. Inzwischen nutzen 70 Mitgliedsfirmen das Angebot der Stahlstiftung."
(Oberösterreichische Nachrichten vom 1. Dezember 2007, S. 4)

    Mit der sinkenden TeilnehmerInnenzahl und der verkürzten Verweildauer ging ein neuer Schwerpunkt zur Erhaltung und Förderung der Beschäftigungsfähigkeit, der sich im Konzept der Employability widerspiegelt, einher. Employability bezeichnet die Fähigkeit einer Person, auf der Grundlage ihrer theoretisch-fachlichen, methodischen und sozialen Kompetenzen die eigene Arbeitskraft eigenverantwortlich zu entwickeln, sie geänderten Rahmenbedingungen anzupassen und zielgerichtet einzusetzen, um eine Beschäftigung zu erlangen oder beizubehalten. (vgl. Blancke/Roth/Schmid 2000) Um die Beschäftigungsfähigkeit zu sichern oder wieder herzustellen, bietet die Stahlstiftung erstmals seit dem Jahr 2007 das Maßnahmenpaket "Orientierung - Perspektivenentwicklung - Qualifizierung", das unter anderem beratende und coachende Einzelgespräche sowie Bildungsbegleitung und -beratung umfasst. (vgl. Stahlstiftung 2007a, S. 12 - 14)Parallel erfolgte eine Ausweitung der Implacement-Aktivitäten. Im Jahr 2009 wurde das Angebot der Bildungskarenz eingeführt. Aktuell nehmen 370 Personen dieses Angebot für maximal zwölf Monate in Anspruch, sind von ihren Beschäftigungsverhältnissen freigestellt ("karenziert"), erhalten Weiterbildungsgeld vom Arbeitsmarktservice und - wie alle anderen StiftungsteilnehmerInnen - ein Stipendium der Stahlstiftung.

    Als älteste und größte Outplacementstiftung in Oberösterreich zählte die Stahlstiftung bislang rund 5.300 betreute Personen und verweist auf einen aktuellen Betreuungsstand von 579 TeilnehmerInnen. Der Anstieg in der Anzahl der TeilnehmerInnen in der Stahlstiftung gründet unter anderem darin, dass zwei der rund 70 Mitgliedsfirmen Leasingunternehmen sind und deren MitarbeiterInnen verstärkt von Kündigungen betroffen sind. Die aktuelle Integrationsrate im Outplacement-Bereich liegt bei ca. 90 Prozent, d. h. ein Großteil der TeilnehmerInnen schafft den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt oder einen anderen positiven Übergang (z. B. die Fortsetzung einer Ausbildung). Die voestalpine Implacementstiftung verzeichnete bislang rund 1.240 betreuten Personen. Aktuell liegt der Betreuungsstand bei 267 TeilnehmerInnen. (Stand: Mai 2009, Stahlstiftung 2009)

    Weitere Herausforderungen für die Stahlstiftung sind nicht auszuschließen, wie das Interview der Oberösterreichischen Nachrichten am 28. Februar 2009 mit Wolfgang Eder, dem Vorstandsvorsitzenden der voestalpine AG, zeigt:

"OÖN: Eine Kündigungswelle schließen Sie aus?
Eder: Eine Kündigungswelle wie in den achtziger und neunziger Jahren wird es nicht geben. Ich kann Kündigungen in Einzelfällen nicht ausschließen. Aber auch in diesem Fall muss niemand Angst haben, dass er auf der Straße steht. In der Stahlstiftung kann er sich bis zu vier Jahre neu orientieren."
(Oberösterreichische Nachrichten vom 28. Februar 2009)

    Die Erfahrungen zeigen, dass das Modell der Stahlstiftung nach wie vor eine wegweisende Lösung darstellt, wie ein großes Unternehmen mit den flexiblen Anforderungen eines deregulierten Arbeitsmarktes umgehen kann.



1 Rechtsgrundlage der Stahlstiftung ist die im Jahr 1988 novellierte § 18 AlVG und die Richtlinie (Zl. 37.007/25-13/93) des Bundesministers für Arbeit und Soziales von 08/93 für die Anerkennung, Durchführung und Förderung von Arbeitsstiftungen. (vgl. Lechner/Philipp 2007, S. 11)



Blancke, Susanne, Roth, Christian, Schmid, Josef, Employability ("Beschäftigungsfähigkeit") als Herausforderung für den Arbeitsmarkt - Auf dem Weg zur flexiblen Erwerbsgesellschaft - Eine Konzept- und Literaturstudie, Arbeitsbericht der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg Nr. 157, Stuttgart 2000

Dolleschka, Bernhard et al., Die Stahlstiftung. Eine Idee wird Wirklichkeit, Linz 1988

Europäische Kommission, Generaldirektion V, GEMEINSAMER BERICHT ZUR BESCHÄFTIGUNG 1997 abrufbar unter http://ec.europa.eu/employment_social/elm/summit/de/papers/jointde.doc, Zugriffsdatum: 16. Mai 2009

Grüner, Werner, VA Stahlstiftung Donawitz, Leoben 1991

Holzer, Christine, Die Implacement-Stiftung. Länderbeispiel, Österreich, Wien 2006

Lechner, David, Philipp, Thomas, Herausforderungen für die Stahlstiftung, Linz 2007

Neue Kronen Zeitung,1500 Pensionisten stürmten VOEST!, 10. Dezember 1987, S. 13

Neue Kronen Zeitung, 6fache Mutter wegrationalisiert, 11. September 1987, S. 10
Neue Kronen Zeitung, Fünffacher Vater kämpft bei Gericht verzweifelt um VOEST-Arbeitsplatz, 4. Dezember 1987, S. 13

Neue Kronen Zeitung, VOEST: Jetzt wackeln die Werkspensionen, 8. November 1987, S. 1

Neue Kronen Zeitung, VOEST: Markt-Erholung weckt wieder Hoffnung, 26. November 1987, S. 10

Neue Kronen Zeitung, VOEST-Betriebsrat: "Ohne Garantie für Jobs sind neue Opfer sinnlos", 5. November 1987, S. 11

Neue Kronen Zeitung, VOESTler sollen neue Opfer bringen, 8. September 1987, S. 10

Neue Kronen Zeitung, VOEST-Personalabbau "explodiert"!, 29. Oktober 1987

Neue Kronen Zeitung, Wieder Streit um die VOEST-Stahlstiftung!, 26. September 1987, S. 14

Neue Kronen Zeitung, Zwölf VOEST-Angestellte kämpfen vor Gericht um ihre Arbeitsplätze, 3. Dezember 1987, S. 7

Nigsch, Otto, Funktionswandel der VOEST-ALPINE-Stahlstiftung, Hamburg 2000

Oberösterreichische Nachrichten, "Noch zwölf bis 18 harte Monate". Mehr Kurzarbeit bei voestalpine, 28. Februar 2009, S. 9

Oberösterreichische Nachrichten, Voest braucht 800 Millionen zum Abbau von 1600 Mitarbeitern, 31. Dezember 1986, S. 12

Oberösterreichische Nachrichten, VOESTALPINE: Arbeitsstiftung führte zu Jobs, 1. Dezember 2007, S. 4

Oberösterreichische Rundschau, "In der Wirtschaft gibt es keine Partei", Stahlstiftung als VOEST-Auffanggesellschaft, 20. August 1987

Seiwert, Lothar J., "Outplacement als Instrument des Personalmanagements", in: Schulz, Dieter et al. (Hrsg.), Outplacement - Personalfreisetzung und Karrierestrategie, Gabler Verlag, Wiesbaden 1989, S. 11 - 18

Stahlstiftung, Reife Leistung. Ältere: In Arbeit bringen. In Arbeit halten, Tagungsbericht, Linz 2001

Stahlstiftung, News 2004. Neuer Kompass für Visionen, Linz 2004

Stahlstiftung, News 2005. Die Zukunft hat ein neues Zuhause, Linz 2005

Stahlstiftung, News 2006. "Initiativen der Stahlstiftung", Linz 2006

Stahlstiftung, News 2007. "Der Mensch im Mittelpunkt", Linz 2007a

Stahlstiftung, 20 Jahre Stahlstiftung. Ein Film von Jupp Stadler, Linz 2007b

Stahlstiftung, Statistik (September 2008), Linz 2008,
abrufbar unter: http://www.stahlstiftung.at/stahlstiftung/stahlstiftung/zahlen.php, Zugriffsdatum: 12. Mai 2009

Stahlstiftung, Statistik (Mai 2009)(unveröffentlichtes Dokument), Linz 2009