42.195 Meter quer durch Linz

42.195 Meter quer durch Linz

von Michael John

In den USA boomen Jogging und Marathonlaufen seit den späten 1960er-Jahren, der New York-Marathon findet seit 1970 statt. Der erste Wien-Marathon wurde 1984 ausgetragen. In Linz, der Stadt mit den finanziell potenten Firmen aus dem ehemaligen Verstaatlichten-Bereich entschloss man sich, nach der Milleniumswende dazu, ebenfalls an diese Entwicklung anzuschließen. Im Kontext der Formel "Fitness statt Fürsorge" war in Linz mit seinem großen Wirtschaftsbereich ehemals verstaatlichter, nunmehr privatisierter Betriebe, das augenscheinlichste Symbol dieser neuen Entwicklung hin zur marktwirtschaftlichen "Hochleistungsgesellschaft" das Investment in den imageträchtigen OMV Linz Marathon. Anlässlich des ersten Linz-Marathons 2002 konnte man in den Oberösterreichischen Nachrichten (die Zeitung fungiert nach wie vor als Mitveranstalterin) lesen:

"Den Linzern sind Großereignisse im öffentlichen Raum - von der Klangwolke bis zum Urfahraner Markt - nicht fremd. Doch der Linz-Marathon war außergewöhnlich. Da bekam man auch als Zuschauer den Adrenalin-Kick. Zeitig kreisen Hubschrauber, scheinbar lautlos. Als unser Spaziergänger das Haus verlässt, ist manches anders. Auf der Nibelungenbrücke stehen die Zuschauer Spalier […] 'Linz ist zwar nicht New York, aber ich hab heute ein Gefühl wie beim New-York-Marathon', sagt mein Begleiter. An diesem Sonntag sind die Linzer begeisterungsfähig wie US-Amerikaner."
(Oberösterreichische Nachrichten vom 15. April 2002, Lokalnachrichten Linz, S. 35)

    Die gewählte Metapher, der Vergleich mit den USA, fügt sich ein in das Bild der "Amerikanisierung" der Gesellschaft. Das Ende der verstaatlichten Industrie, wachsender Konsumismus und die Wandlung hin zu einer Gesellschaft mit immer stärkerem Eventcharakter. (vgl. Daurer 2008, S. 54) "Die Premiere des 'OMV Linz-Marathon' ist gelaufen", heißt es auf Seite 1 der Oberösterreichischen Nachrichten anlässlich dieses ersten Marathons:

"Die Linzer Landstraße zeichnete bei dieser Veranstaltung […] ein Bild, wie man es in Linz noch nie gesehen hatte. Eine Straße des Triumphes, gesäumt von Zuschauern, die Spalier standen, um die Laufenden mit ihrem Applaus ins Ziel zu tragen. 'Es ist genau, was wir brauchen, um ein Image der Stadt Linz über die Grenzen hinweg zu transportieren', sagte ein beeindruckter Bürgermeister Franz Dobusch."
(Oberösterreichische Nachrichten vom 15. April 2002 , S. 1)

    In Linz wurde jedoch von Anbeginn der Breitencharakter des Marathons betont (Sport für Alle). Der von der LIVA, der Stadt Linz, der OMV als Hauptsponsor und diversen anderen Unternehmen ausgerichtete Lauf wurde in den letzten Jahren zum Volksfest. Großbetriebe wie die voestalpine AG oder OMV sponsern die Marathon-Ambitionen ihrer MitarbeiterInnen. Marathonlaufen hat nach Boberski in der modernen Gesellschaft abgesehen von der Annahme, man fördere damit die Gesundheit, mit Durchhaltevermögen, mit Selbstbestätigung und damit mit Selbstbewußtsein zu tun, aber auch mit Einsamkeit und individuellen Entscheidungen. (Boberski 2004, S. 9 f., 171 ff.) Der Sport scheint wie geschaffen für ManagerInnen, doch überraschender Weise ist das Interesse gerade bei den Linzer Großbetrieben sowohl seitens der Angestellten als auch von ArbeiterInnenseite durchaus erheblich. "Es ist ganz erstaunlich, es sind nicht nur die Manager, auch Arbeiter und Angestellte aus den Großbetrieben laufen. Interessant ist, Migranten, die in Österreich leben, laufen kaum, aber sonst aus den Betrieben kommen Führungspersonal, Arbeiter und Angestellte, Männer wie Frauen", erzählt Sportmediziner Andreas Dallamassl, der in Linz schon als Pacemaker (Schrittmacher) für den stellvertretenden OMV-Generaldirektor Roiss lief:

"Ich habe in der Voest ebenso wie bei der OMV Mitarbeiterprogramme betreut und die verschiedenen Ränge kommunizieren miteinander über den Marathon, es ist ja jeder in der gleichen Situation. Du musst diese Strecke durchhalten, man ist da auf einer Ebene […] Ich würde schon sagen, dass das in diesem Zusammenhang Hierarchie abflachend wirkt."
(Interview mit Andreas Dallamassl am 18. April 2009 (Tonband))

    Die Linzer Großbetriebe und dabei auch der mit Abstand größte Betrieb, die voestalpine AG sich von Anfang an über Mitarbeiterzeitungen und ihre Website in dieser Hinsicht:

"Da Gesundheit und Sport wichtige Anliegen der voestalpine Stahl sind, unterstützt das Unternehmen mit dem Linz-Marathon auch heuer wieder eine der größten Laufveranstaltung Österreichs. Die voestalpine ist nicht nur auf der Sponsorenliste prominent vertreten - auch in der Ergebnisliste sind die MitarbeiterInnen des Unternehmens traditionell immer stark präsent. So haben letztes Jahr insgesamt 429 voestalpine-SportlerInnen an einem der Bewerbe des Linz-Marathons teilgenommen. Damit stellte die voestalpine im Jahr 2004 die größte Mannschaft überhaupt."1

    Die voestalpine AG bietet derzeit das umfangreichste Marathon-Firmenprogramm an:

"Damit auch alle MitarbeiterInnen sicher und gesund das Ziel erreichen, unterstützt die voestalpine ihre laufende Belegschaft in der Vorbereitung auf die körperliche Herausforderung Marathon mit einer Vielzahl von Angeboten im Rahmen des sicher-gesund-Programms. So wird allen MitarbeiterInnen im Basispaket die Möglichkeit geboten, einen sportlichen Leistungstest zu absolvieren, wobei das Unternehmen beim ersten Test sämtliche Kosten übernimmt. Neben weiteren Services wie vergünstige Ausrüstung oder gemeinsame Gruppendauerläufe stellt das Unternehmen aber auch betriebsinterne Experten zur Verfügung. Das Team der Physiotherapie und eine Ernährungsberaterin helfen den LäuferInnen dabei, auch das intensive Training verletzungsfrei zu absolvieren und den optimalen Erfolg daraus zu ziehen."1

    Jahr für Jahr steigt die Zahl der - in welcher Form auch immer - teilnehmenden Aktiven, Jahr für Jahr die Zahl der ZuschauerInnen. 2007 rief die Gratiszeitung Heute Linz zur "Marathon-City" aus. (Heute vom 16. April 2007, S. 25) Die extrem flache Strecke gilt als "schnellster Marathon Österreichs", hier wurden absolute Spitzenzeiten gelaufen. Der 8. OMV Linz Donau Marathon im Jahr 2009 brachte einen neuen Rekord an StarterInnen. 14.573 Spitzen- und HobbysportlerInnen nahmen die unterschiedlichen Distanzen in Angriff. LäuferInnen aus 22 Nationen liefen mit und bei den Marathon-Anmeldungen wurde eine Steigerung von 22 Prozent registriert. Nach polizeilichen Schätzungen wurden die AthletInnen von 120.000 ZuschauerInnen, um 20.000 Personen mehr als im letzten Jahr, angefeuert. Aus dem Volksfest wurde durch eine große und einzigartige Ausstellung, die entlang der Marathonstrecke stattfand, ein Kulturspektakel. Bei "AirWorks" handelte es sich um ein Skulpturenprojekt:

"Der Linz-Marathon wird damit auch zum Kunstmarathon. Initiiert und unterstützt hat das Projekt Borealis als führender Anbieter innovativer und hochwertiger Kunststoffe"
(vgl. http://www.linz-marathon.at/de/index.php)

    , hält Marathon-Organisator Tröbinger fest. (Oberösterreichische Nachrichten vom 19. Mai 2009, S. 6)

    LIVA-Direktor Wolfgang Lehner definierte als Zukunftsprognose: "Wir entwickeln uns in Richtung 20.000 [Anm.: teilnehmenden AthletInnen]." (vgl. Oberösterreichische Nachrichten vom 19. März 2009) Linz als Marathonstadt mit Mega-Besuch und riesigen ZuschauerInnenmassen - dies sind untrügliche Kennzeichen sowohl einer "Freizeitgesellschaft" als auch einer "Eventgesellschaft". Zudem ist der Linz-Marathon schon zum Wirtschaftsfaktor geworden. Tatsächlich ist der OMV-Marathon nur das Symbol einer Entwicklung hin zu einer um Gesundheit, Fitness und "Leistung" bemühten Gesellschaft - was immer auch darunter verstanden wird. Denn neben diesem Großereignis boomen auch andere anstrengende Praktiken in Linz: es gibt einen Frauenlauf, Linzer City Lauf, Frühlingslauf, einen Linz-Triathlon, einen Pöstlingberglauf, Silvesterlauf und einen 3-Brücken-Lauf und noch eine Reihe anderer Veranstaltungen. Völlig unbestritten ist der Positivgehalt einer derartigen Entwicklung jedoch nicht. Die Seite-1-Meldung "Bei Marathon erlitten Kids Lärm-Trauma" (infolge der vielen Trillerpfeifen) mag noch harmlos anmuten. Eine andere Zeitungsmeldung ist jedoch ernster zu nehmen: So wurden 2008 vom Linzer Roten Kreuz 97 AthletInnen und drei PassantInnen während des Linz-Marathons versorgt, 45 erlitten einen Kollaps, 20 sind gestürzt. (Die Neue vom 14. April 2008, S. 11) Nicht von ungefähr benannte der Buchautor und Marathonexperte Heiner Boberski eines seiner Buchkapitel mit dem Titel "Der Tod läuft mit". (Boberski 2004, S. 7) Angesichts von Dopingfällen bei Marathonläufen werden schnelle Zeiten nicht nur blauäugig als tolle Leistungen angesehen.2

    Marathon-Arzt Andreas Dallamassl meint dazu:

"Man muss eben auf die Gefahren achten, dass es die gibt, ist klar. Deswegen gibt es ja auch Programme und ärztliche Betreuung. Insgesamt kann man jedenfalls sagen, in Linz und Oberösterreich ist der Ausdauerlauf populär geworden. Man denke auch nur an Aktionen wie 'Schule läuft' oder 'Oberösterreich bewegt sich'. Die Stadt Linz hat durch diese Entwicklung auf jeden Fall gewonnen, präventiv-medizinisch gesehen ist das ein enormer Fortschritt."
(Interview mit Andreas Dallamassl am 18. April 2009 (Tonband))



1 http://www.voestalpine.com/stahl/de/op2/news/voestalpine_Stahl_unterstue...

2 vgl. dazu den Fall der gedopten Langstreckenläuferin Susanne Pumper und die Aussagen des Leistungsdiagnostikers Hans Holdaus, siehe beispielsweise Oberösterreichische Nachrichten vom 25. Oktober 2008, S. 23 und Oberösterreichische Nachrichten vom 25. März 2009 , S. 17



Daurer, Cornelia, "Alltag, Freizeit und Sport", in: Mayrhofer, Fritz, Schuster, Walter (Hrsg.), Linz von der Industrie- zur Informationsgesellschaft. 1984 - heute, Linz 2008, S. 53 - 86

Boberski, Heiner, Mythos Marathon. Schicksale - Legenden - Höhepunkte, St. Pölten 2004