Koks und LIFE

Koks und LIFE

von Michael John

    Für die 1950er-Jahre kann man in der verstaatlichten Industrie eine Art gemeinwirtschaftlichen "Sozialismus" annehmen. Die Eigentümerin war die Republik Österreich, es fehlte in der Nachkriegszeit nicht an der entsprechenden Rhetorik. Wohl auch aus den Erfahrungen des Oktoberstreiks von 1950 heraus, konnte die Belegschaft vergleichsweise umfassende Sozialleistungen entgegennehmen, die vom Gratis-Sportverein, über Koks-(Kohle)-Deputate bis zum Urlaub in der betriebseigenen Schihütte und zum Freizeitvergnügen im VÖEST-Bad am Großen Weikerlsee reichten - wobei ein eigener Werksbus die ArbeitnehmerInnen zum Badesee brachte. (vgl. Carrington/Reiter 2007, S. 57 und 84) Als Sozialmaßnahmen sehr bekannt waren die Koksaktionen der VÖEST - so bekannt, dass möglicherweise sogar die etwas peiorative, umgangssprachliche Bezeichnung "Koksler" für VÖEST-MitarbeiterInnen darauf zurückzuführen ist. Die ersten schriftlichen Aufzeichnungen reichen in das Jahr 1946 zurück. Im Zuge dieser Aktionen erhielten MitarbeiterInnen ohne eigenen Haushalt 100 Kilogramm, jene mit eigenem Haushalt 200 Kilogramm Koks. Zusätzlich wurde die Gratisabgabe von Klaubkoks, das ist Koks, der bei Transport- oder Ladevorgängen verlorenging, durchgesetzt. (vgl. Abel 1995, S. 132) Für die 1950er- und 1960er-Jahre ist ferner auf die Bedeutung der vielen Freizeit- und Sportsektionen der VÖEST als ideologisch-politisch konnotierte Sozialräume hinzuweisen. (vgl. Kirchmayr 2008, S. 193 f.) Eine Festschrift hielt dazu fest: "Sport ist Betriebskultur" - und führte 26 Sparten an, darunter herkömmliche wie Schwimmen, Leichtathletik, Gewichtheben, dann Versehrtensport, aber auch ungewöhnliche Nennungen wie Amateurfunk, Fischen, Foto, Hundesport und Schach. (vgl. Sportklub VÖEST 1999, S. 13)

    Die Grundidee für das in Linz ab den 1940er-Jahren vorzufindende Modell stellt wohl, so die Hypothese, eine Variante der sozialistischen Idee einer Betreuung der Arbeitenden "Von der Wiege bis zur Bahre" dar. (vgl. Sühl 1987, S. 180 - 195) Ursprünglich ins 19. Jahrhundert zurückreichend, lebten speziell in der Zwischenkriegszeit (1918 - 1934) - vor allem in Wien, aber auch in anderen Regionen Österreichs - sozialdemokratische ParteigängerInnen und SympathisantInnen in einer Art Gegengesellschaft. (vgl. Weidenholzer 1985, S. 231 ff.; Maimann 1988, S. 15 - 98) Kulturvereine, Kleingärtnervereine, Taubenzüchtervereine, Konsumgenossenschaften, Feuerbestattungsvereine oder Sterbevereine standen in dieser Gegenwelt zur Verfügung.

    Die Information über Politik und Alltagsgeschehen erfolgte über Arbeiterzeitungen und andere sozialdemokratische Medien. Sowohl in den Jahren des Nationalsozialismus als auch in der Nachkriegszeit hatte sich die Gesellschaft stark verändert. Residuen der Versorgungs- und Befürsorgungs-Philosophie fanden sich jedoch etwa im Gemeindebau des "Roten Wien" oder im Einflussbereich der verstaatlichten oder staatsnahen Industrie und damit auch in Linz. Tatsächlich benannte man in einer von den Betriebsratskörperschaften der VOEST herausgegebenen Festschrift das Kapitel über 50 Jahre Sozialwesen (1945 bis 1995) mit dem Titel "Von der Wiege bis zur Bahre". (vgl. Abel 1995, S. 131)

    Von 1945 bis zum Ende der 1990er-Jahre kann, mit gewissen Abstrichen, insgesamt von einer kulturellen und politischen Hegemonie der Sozialdemokratie im Bereich der verstaatlichten Industrie ausgegangen werden. Gewerkschaften und BetriebsrätInnen hatten in jener Phase großen Einfluss. Der einzelne Arbeitnehmer, die Arbeitnehmerin, sollte entsprechend und gut versorgt werden. Dazu zählte die Versorgung mit Wohnungen durch die WAG (vormals Wohnungs-Aktiengesellschaft), sowie durch die von der VÖEST gegründete GIWOG (Gemeinnützige Industrie Wohnungsgesellschaft m.b.H.) und durch die Gemeinnützige Wohnbaugesellschaft EIGENHEIM, die von VÖEST-MitarbeiterInnen gegründet worden war. (vgl. Geschichte-Club VOEST 1995, Bd. 2, S. 276 ff.) Mitte der 1950er-Jahre verfügte das Werk mithin über rund 3.000 Wohnungen für Werksangehörige. (vgl. Abel 1995, S. 93) Von 1950 bis 1954 stieg der freiwillige Sozialaufwand pro Kopf in der VÖEST enorm, und zwar von 656 Schilling auf 1.472 Schilling. (vgl. ebd., S. 95) Großes Interesse an einer Wohnungsversorgung durch den Betrieb hatten auch die MitarbeiterInnen der Österreichischen Stickstoffwerke. Dort war bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt, nämlich im Jahr 1952, eine Meinungsumfrage mittels Fragebogen unter der Belegschaft durchgeführt worden. Dabei zeigte sich, dass 85 Prozent der Befragten an einer Wohnungsbereitstellung interessiert waren, 67 Prozent an einer entsprechenden Gesundheitsfürsorge und 45 Prozent an Erholungsheimen. (vgl. Österreichische Stickstoffwerke A.G. Werkszeitung Jg. 2 (Linz 1952) H. 4, S. 10)

    Über das übliche Maß hinaus hatten die Versorgungsbetriebe der VÖEST begonnen, Textilien und andere Produkte zu verkaufen. Im Hauptmagazin I wurde 1952 eine Textilverkaufsstelle eingerichtet, in der "man alle möglichen Bekleidungsgegenstände von Strümpfen bis zu Mänteln für Damen und Herren erstehen konnte." (Geschichte-Club VOEST 1995, Bd. 2, S. 269) 1953 wurde beim Haupteingang Turmstraße ein Verkaufsgeschäft für Textilien, Schuhe und Sportartikel eröffnet, in dem Werksangehörige auf Kredit einkaufen konnten. Zu diesem Zweck hatte man den repräsentativen Messeausstellungspavillon der VÖEST von Wien nach Linz gebracht. Im Jahre 1961 wurde im Hauptmagazin I, später im Portiergebäude, eine Lebensmittelverkaufsstelle eingerichtet:

"Zu billigeren Preisen als in den Stadtgeschäften konnte man alle gängigen Waren einkaufen. Manche Werksangehörigen haben ihre Viktualien kofferweise nach Hause transportiert."
(ebd., S. 270)

    Eine der letzten Neugründungen im Sinne des "sorgenden Betriebs" war wohl der Geschichte-Club VOEST, heute Geschichteclub Stahl. 1985 propagierten die Gewerkschaften in den einzelnen Betrieben die Bewegung "Grabe, wo Du stehst" - darunter auch in der Chemie Linz und in der VOEST. 1987 stellte der Betriebsrat zwei Räume im Werkshotel 2 zur Verfügung, so dass mit der Sammlung von Erinnerungsstücken und Dokumenten begonnen werden konnte. Im Oktober 1989 wurde der Geschichte-Club VOEST als Verein angemeldet. (vgl. Geschichte-Club VOEST 1995, Bd. 2, S. 356 ff.) Mit diesem Schritt konnten Unterstützungen und Spenden offiziell entgegen genommen werden. MitarbeiterInnen waren nun Vereinsmitglieder, der Verein stand nach wie vor mit dem Betrieb und dem Betriebsrat in enger Verbindung. Während dieser Geschichteclub noch heute besteht, stellte der VHS-Geschichteclub CHEMIE Linz einige Jahre nach der Gründung 1985 den Betrieb ein. (vgl. VHS Geschichteclub Chemie Linz 1985, S. 1 - 84)

    Mit den Krisen der 1980er- und 1990er-Jahre, der Umgestaltung des Unternehmens zur Holding und schließlich zu privatisierten bzw. privatwirtschaftlich organisierten Unternehmen hielten umwälzende und nachhaltige Transformationen Einzug. War in den 1970er-Jahren der Begriff der "Corporate Identity" in Österreich noch weitgehend unbekannt, begann sich dies in den Folgejahrzehnten zu verändern. Unter "Corporate Identity" wird Identität und unternehmerisches Handeln "nicht nur in den Systemzwängen betriebswirtschaftlicher Kalkulationen" begriffen,

"sondern es ist, bezogen auf die 'anderen Umwelten' des ökonomischen Systems, grenzüberschreitend und systemübergreifend, indem es die 'Human relations', das 'soziale Kapital' und somit das kulturelle Potenzial innerhalb und außerhalb des Unternehmens einbezieht."
(Pankoke 2006, S. 272)

    Der Begriff "Corporate Identity" entstand in den USA im Zusammenhang mit einem privatkapitalistischen System. Nun haftete aber den verstaatlichten Betrieben in Österreich auch noch in den Jahren der Regierung Bruno Kreiskys im Rahmen der Zentralisierung, des Ausbaus der verstaatlichten Industrie und so genannten Stahlfusion, das Flair einer nicht rein privatkapitalistischen Gegengesellschaft an. Charakteristisch für das Betriebsgeschehen war der damals gegebene gesamtgesellschaftliche Bezug.

    Mit der massiven Krise der verstaatlichten Industrie in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre entfaltete die Ideologie einer "Corporate Identity" im Sinne der in den USA und Japan entwickelten Terminologie auch in den Großbetrieben in Linz ihre Wirksamkeit. Mittlerweile sind aus dem Verstaatlichtenbereich die beiden Betriebskomplexe voestalpine und (OMV)-Borealis entstanden. Beide Konzerne, obwohl mehrheitlich privatisiert, verstehen sich aber durchaus als Betriebe, die in der Tradition der ehemaligen verstaatlichten Industrien stehen. Die "Corporate Identity" wurde ergänzt durch die "Corporate Social Responsibility" (CSR) und gewann dadurch gleichzeitig an Gewicht. Hierbei soll die Gesundheit und Fitness erhöht und damit auch das Arbeitsleben für das Unternehmen durch eine entsprechende Freizeitgestaltung verlängert werden.

    Als Beispiel kann das Programm "Productive Aging" gelten, das die Agrolinz Melamine, ein Nachfolgeunternehmen der Stickstoffwerke und nun Borealis, 1997 einführte: "Motiv des Vorstands", heißt es in einer Kurzdarstellung,

"war - nach den Jahren der rechtlichen, ökonomischen und technologischen Reorganisation - auch in der MitarbeiterInnenentwicklung und im Human Ressources Management eine neue Qualität zu erreichen. Die Sanierung der defizitären Chemie Linz war u. a. mit massiver Stellenkürzung und einem Aufnahmestopp verbunden, was zu einem relativ hohen Durchschnittsalter der Belegschaft geführt hat."1

    Kernstück des Programms waren ein Fünf-Schichtgruppen-Plan, ein Gesundheits-ModeratorInnen-Netzwerk im Unternehmen und ein Bündel an Gesundheitsmaßnahmen, das von Gratis-Gesundheits-Checks über Lauftraining bis zum kostenlosen Angebot von frischem Obst reichte.1

    Als eines der ersten Unternehmen in Österreich hat die voestalpine AG ein preisgekröntes Programm namens LIFE eingeführt (Lebensfroh, Ideenreich, Fit und Erfolgreich) und wurde dabei von einem ähnlichen Motiv wie bei Agrolinz geleitet, der demographischen Entwicklung hin zu älteren ArbeitnehmerInnen. Mit den Vorarbeiten wurde 2000 begonnen. Seit 2003 wird LIFE umgesetzt. Als zentrale Punkte werden dabei u. a. angeführt: "Chancengleichheit: sichert das produktive gemeinsame Wirken der Geschlechter und Generationen", ferner "Sicherheits- und Gesundheitsvorsorge: Stärkung der Leistungsfähigkeit aller MitarbeiterInnen bis ins Alter" und "Kultur, Führung, Entwicklungsmaßnahmen: Erhaltung der Innovationsfähigkeit, Wissensweitergabe".2 Im Betrieb Agrolinz Melamine International wurde 2004/05 das Programm AMI - Aktiv mit Intelligenz durchgeführt, das stark in Richtung Freizeitgestaltung ging. Es beinhaltete u. a. Nordic Walking, Inline Skaten, Fitness- und Wellness-Center und Mental Coaching im Internet.3 Nach der Übernahme von Agrolinz durch den internationalen Konzern Borealis (Eigentümer Emirat Abu Dhabi und OMV) fand das Programm "24h care: Sicher arbeiten, sicher leben 'rund um die Uhr'" Anwendung. Es wird als "Gesundheitsunterstützungssystem" beschrieben, das die Individualität von MitarbeiterInnen und ihre Arbeitsmotivation fördere.4 Wesentlich an diesen Programmen ist, dass sie im Kontext der so genannten Corporate Social Responsibility stehen. Sie sind geprägt durch eine soziale und gleichzeitig ideologiefreie Ausrichtung im Sinne der betrieblichen Erfordernisse.



1 http://www.arbeitundalter.at/index.php?option=com_content&view=article&i...

2 Das LIFE Programm der voestalpine. Eine attraktive Arbeitswelt voestapine für alle Generationen und Geschlechter, vgl. http://www.voestalpine.com/stahl/de/jobs/workplace/life/

3 Agrolinz Melamine International, Projekt HEALTH, interne Projektunterlagen, Linz 2004

4 Borealis Linz, 24h care: Sicher arbeiten, sicher leben "rund um die Uhr". Informationsbroschüre, Linz o. J.



Abel, Rudolf, VOEST - Menschen und ihr Werk. 50 Jahre aus der Sicht der Belegschaft, Linz 1995

Carrington, Manfred, Reiter, Andreas (Hrsg.), Der Süden von Linz, Linz 2007

Geschichte-Club VOEST (Hrsg.), Geschichte der VOEST, Band 2, Linz 1995

Kirchmayr, Birgit, Kultur- und Freizeiträume in Linz im 20. Jahrhundert, Linz 2008

Maimann, Helene (Hrsg.), Die ersten 100 Jahre. Österreichische Sozialdemokratie 1888 - 1988, Wien 1988

Pankoke, Eckart, "Corporate Identity, Social Responsibility, Corporate Citizenship. Unternehmensethik zwischen Eigeninteresse und öffentlicher Verantwortung", in: Berufsverband Deutscher Soziologinnen und Soziologen (Hrsg.), Sozialwissenschaften und Berufspraxis, 29. Jahrgang, Heft 2, Stuttgart 2006, S. 270 - 279

Sportklub VÖEST (Hrsg.), 50 Jahre Sportklub SK VÖEST 1949 - 1999, Linz 1999

Sühl, Klaus, "Von der Wiege bis zur Bahre: Arbeiterkultur und Sozialdemokratie", in: Deutscher Gewerkschaftsbund (Hrsg.), Das halbe Leben. Geschichte und Gegenwart des arbeitenden Berlin, Berlin 1987, S. 180 - 195

VHS-Geschichteclub Chemie Linz, "Wir graben unsere Geschichte aus …" Stickstoffwerke - 1939 bis ca. 1955, Linz 1985

Weidenholzer, Josef, Der sorgende Staat. Zur Entwicklung der Sozialpolitik von Joseph II. bis Ferdinand Hanusch, Wien 1985