Hitler baute nicht nur die Autobahn

Hitler baute nicht nur die Autobahn

von Michael John

Linz wurde 1938 zur "Heimatstadt Hitlers", zur "Patenstadt" und zusammen mit Berlin, Hamburg, Nürnberg und München zur "Führerstadt" ausgerufen. Die Stadt erfuhr so eine enorme Bedeutungssteigerung, hinter der der Diktator selbst stand. Damit verbunden waren große kulturelle, städtebauliche und wirtschaftliche Pläne, die ansatzweise verwirklicht wurden. Tatsächlich hatte sich die Bevölkerungszahl der Stadt nahezu verdoppelt und es wurden mehr als 25.000 industrielle Arbeitsplätze unter Zwangsmaßnahmen akquiriert. Das mörderische Regime plante für die "arische" Bevölkerung ein Mega-Kunstmuseum, Autobahnverbindungen, ein Stadion für 100.000 BesucherInnen und vieles mehr. Unter massivem Zwang wurden ferner mehr als 10.000 Wohnungen in großen Anlagen errichtet. Großindustrien mit mehr als 20.000 Zwangs- und SklavenarbeiterInnen entstanden auf der grünen Wiese. (vgl. John 2001, S. 25 - 34 und Schober 2001, S. 150)

    Die bombengeschädigte, aber insgesamt doch intakte materielle Hinterlassenschaft ("Hitlerbauten", Großindustrie, Kunstwerke) sorgte nach 1945 für Probleme. Ein Zurückdrehen der Zeit war nicht möglich. Zehntausende LinzerInnen mussten zumindest als SympathisantInnen des NS-Regimes bezeichnet werden - sie waren entweder in der NSDAP Mitglied gewesen und/oder hatten, unterstützt durch die NS-Propaganda, ihre Illusionen, Gefühle und Hoffnungen mit dem Dritten Reich verbunden. Der neue sozialdemokratische Bürgermeister Ernst Koref, der in der NS-Zeit die Gestapohaft durchlitten hatte, bemühte sich um einen klaren Bruch und begegnete der Diktatur Hitlers mit Gegnerschaft. Eine antifaschistische Tradition war in Teilen der Bevölkerung durchaus gegeben. Schließlich setzte auch die Besatzungsmacht USA eindeutig auf die demokratischen Kräfte. Die Situation war jedoch insgesamt komplizierter. Der Beamten- und Wirtschaftsapparat war sowohl auf städtischer wie auch auf Landesebene durchsetzt mit "Ehemaligen". (vgl. dazu generell Schuster 1996, S. 87 - 205) Jeder kannte jeden. Zudem konnten überlebende OpponentInnen des NS-Regimes häufig auf jemanden aus dem NS-Apparat verweisen, der oder die ihnen beim Überleben geholfen hatte. Ferner galten, unter selektiver Bezugnahme auf die so genannte "Moskauer Deklaration", Österreich und die ÖsterreicherInnen nach offizieller Lesart als "erstes Opfer" Hitler-Deutschlands. Dies bot kollektiv und individuell die Möglichkeit, sich als unbeteiligt an den Untaten des NS-Regimes darzustellen.1

    Dieser spezifisch österreichischen Politik der teilweisen Unbekümmertheit hinsichtlich der NS-Vergangenheit entsprach die Einstellung nicht unbeträchtlicher Teile der österreichischen Bevölkerung. Alarmiert durch eigene Wahrnehmungen, ließen die amerikanischen Militärbehörden in Linz, Salzburg und Wien ab 1946 Meinungsumfragen zur Haltung der Bevölkerung in Hinblick auf die NS-Zeit und den Antisemitismus durchführen. Dabei handelt es sich um die ersten sozialwissenschaftlich erhobenen, repräsentativen Umfragedaten, die es in Österreich zu dieser Thematik gibt. Stellt man in Rechnung, dass sich in der Zeit der alliierten Militärpräsenz durchaus nicht jeder offen zu seiner Meinung bekennen wollte, und geht man davon aus, dass aufgrund des Geschehenen der Prozentsatz der NS-BefürworterInnen und AntisemitInnen auch real zurückging, so zeigen sich gerade in Linz und Salzburg hohe Zustimmungsquoten zur nationalsozialistischen Politik im Allgemeinen und zur Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung im besonderen:

Tab. 1: Tabelle: Amerikanische Umfrageergebnisse 1946 - 48, Zustimmung in Prozent
(Quelle: Hiller 1974, S. 158 - 166)

    Die Ergebnisse in Linz hinsichtlich des Antisemitismus heben sich von den anderen beiden Städten nicht so sehr ab, wie im Falle des Items "Der Nationalsozialismus" sei "eiaane gute Idee" gewesen. Offenbar waren vor allem die vielen Wohnungen in den so genannten "Hitlerbauten" in den Köpfen vieler Betroffener ebenso positiv verankert wie die Errichtung der Großindustrie. Nur so lässt sich erklären, dass der VdU (Verband der Unabhängigen), im Volksmund die so genannte "Partei der Ehemaligen" [Anm.: ehemaligen NationalsozialistInnen], bei Betriebsratswahlen 1949 in der VÖEST und den Stickstoffwerken stimmenstärkste Partei (!) wurde. In beiden Betrieben überholte der VdU im ArbeiterInnenbetriebsrat die Sozialdemokratie deutlich an Stimmen. Bei den Gemeinderatswahlen 1949 erreichte diese Partei speziell in Linz das beeindruckende Ergebnis von 28,3 Prozent der Stimmen. Linz war damals eine Hochburg des VdU. (vgl. Kepplinger/Weidenholzer 1996, S. 37 - 40)

    Die Fragestellungen, ob die industriellen Großbetriebe und die so genannten "Hitlerbauten" damals eine positiv begriffene Hinterlassenschaft der Nationalsozialisten waren und ob es damals eine Faszination des voluntaristischen Ansatzes der Nationalsozialisten, der "Kraft des Willens" und der NS-Modernität gab, sind letztlich für erhebliche Teile der Bevölkerung zu bejahen. Auch lässt sich Götz Alys Konzeption eines nationalsozialistischen "Volksstaats" angesichts der großen Popularität des Regimes in Oberdonau gut am Beispiel Linz argumentieren. (vgl. Aly 2005, S. 32) Der Hinweis, dass die vermeintlichen Errungenschaften der NS-Politik auf nationalsozialistischer Kriegspolitik- und Verfolgungspolitik aufbauten und schließlich in einem Blutbad endeten, wurde von diesen Bevölkerungsteilen ebenso wenig aufgenommen, wie die Tatsache, dass der Fortbestand der Linzer Großbetriebe nach 1945 auf einer Entscheidung der US-Besatzungsmacht beruhte. Der wirtschaftliche Erfolg der Betriebe wurde in den 1950er-Jahren durch amerikanische Marshall-Plan-Mittel möglich gemacht und war keine direkte Folge nationalsozialistischer Politik. (vgl. Lackinger 2007, S. 156 ff. und Moser 1995, S. 345 - 361) Dennoch formierte sich in den Köpfen von Teilen der Bevölkerung der Gedanke einer "ordentlichen Sozialpolitik" und der "ordentlichen Beschäftigungspolitik" der NationalsozialistInnen, der in Linz und Oberösterreich über Jahrzehnte verankert bleiben sollte. (vgl. Moser 1993, S. 95 ff.) Auch den "Beginn der Industrialisierung von Linz" im Jahre 1938 anzusetzen, wie dies häufig nicht nur an Stammtischen zu hören war, stellt einen Mythos dar. (vgl. Lackinger 2007, S. 153 f.)



1 Die Literatur dazu ist breit gestreut, als Beispiele vgl. Albrich 1997, Botz 1996, S. 51 - 85 und Mark 2006; als jüngsten Beitrag zur österreichischen Erinnerungs- und Gedenkdiskussion vgl. Stifter 2009



Albrich, Thomas, Holocaust und Schuldabwehr. Vom Judenmord zum kollektiven Opferstatus, in: Steininger, Rolf, Gehler, Michael (Hrsg.), Österreich im 20. Jahrhundert, Band 2, Wien/Köln/Weimar 1997, S. 39 – 106

Aly, Götz, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt 2005

Botz, Gerhard, Geschichte und kollektives Gedächtnis in der Zweiten Republik. "Opferthese", "Lebenslüge" und "Geschichtstabu" in der Zeitgeschichtsschreibung, in: Kos, Wolfgang, Rigele, Georg (Hrsg.), Inventur 45/55, Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, Wien 1996, S. 51 – 85

Hiller, Alfred, Amerikanische Medien- und Schulpolitik in Österreich (1945 - 1950), Univ.-Diss., Wien 1974

John, Michael, "Zwangsarbeit und NS-Industriepolitik am Standort Linz", in: Gonsa, Christian, Hauch, Gabriella, John, Michael, Moser, Josef, Perz, Bertrand, Rathkolb, Oliver, Schober, Michaela, Zwangsarbeit-Sklavenarbeit. Politik-, sozial- und wirtschaftshistorische Studien (= Rathkolb, Oliver [Hrsg.], NS-Zwangsarbeit: Der Standort Linz der "Reichswerke Hermann Göring AG Berlin" 1938 - 1945, Band 1), Wien/Köln/Graz 2001, S. 23 – 146

Kepplinger, Brigitte, Weidenholzer, Josef, Die Rekonstruktion der Sozialdemokratie in Linz 1945-1950, in : Archiv der Stadt Linz (Hrsg.), Historisches Jahrbuch der Stadt Linz 1995, Linz 1996, S. 13 – 67

Lackinger, Otto, Die Linzer Industrie im 20. Jahrhundert, Linz 2007

Mark, Oliver, Die Opferthese im Spiegel der Medien, Univ.-Dipl.Arb., Wien 2006

Moser, Josef, Oberösterreichs Wirtschaft 1938 bis 1945, Wien 1995

Moser, Josef, "Beschäftigungspolitik im 'Dritten Reich'", in: Institut für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (Hrsg.), WISO. Wirtschafts- und sozialpolitische Zeitschrift, 15. Jahrgang, März 1993 (4/1992), S. 95 - 120

Schober, Michaela, "ZwangsarbeiterInnen der Reichswerke Hermann Göring am Standort Linz - Statistikbericht unter Berücksichtigung der deutschen Staatsangehörigen", in: Gonsa, Christian, Hauch, Gabriella, John, Michael, Moser, Josef, Perz, Bertrand, Rathkolb, Oliver, Schober, Michaela, Zwangsarbeit-Sklavenarbeit. Politik-, sozial- und wirtschaftshistorische Studien (= Rathkolb, Oliver [Hrsg.], NS-Zwangsarbeit: Der Standort Linz der "Reichswerke Hermann Göring AG Berlin" 1938-1945, Band 1), Wien/Köln/Graz 2001, S. 147 - 287

Schuster, Walter, "Die Entnazifizierung des Magistrats Linz", in: Archiv der Stadt Linz (Hrsg.), Historisches Jahrbuch der Stadt Linz 1995, Linz 1996, S. 87 – 205

Stifter, Christian H. (Hrsg.), Hinter den Mauern des Vergessens … Erinnerungskulturen und Gedenkprojekte in Österreich, Wien 2009